Sonntag, 10. August 2014

Set This House in Order by Matt Ruff #nospoilering

Set This House in Order, deutscher Titel: "Ich und alle anderen" verrät noch nichts über die wirklich irre Story, die der amerikanische Autor Matt Ruff 2003 auf die Welt losgelassen hat. Da er zu den vielseitigen Erzählern gehört, überrascht er auch Kenner mit jedem neuen Buch.

Doch nicht nur auf jedem (virtuellen) Buchdeckel und in jeder vollautomatisierten Kurznachricht wird gespoilert ohne Ende.

HIER nicht!

Vattaunsa möchte seiner fassungslosen Bewunderung für einen der ungewöhnlichsten Romane, die er jemals gelesen hat, Ausdruck verleihen und zum Selberlesen motivieren, OHNE ein Wort über die wesentliche Grunddisposition, die einmalige und faszinierende Erzähltechnik zu verlieren.

Dabei bietet die 750 Seiten-Erzählung (deutsche Taschenbuch-Ausgabe) eine schier unerschöpfliche Erzähltiefe, die mit einmal Spoilern längst nicht zu erledigen wäre. Nur keine Sorge. Allerdings ist die schönste und sensibelste Entdeckung diejenige, die man auf ersten 50 Seiten machen kann, wenn man NICHT weiß, was für eine spezielle Anordnung von Personen und Orten sich vor einem entfaltet.

Das sind doch - wir erinnern uns an unsere frühen Leseerfahrungen - die schönsten Momente, wenn aus Bahnhof-Bahnhof-Bahnhof langsam Klarheit wird. Etwa weil der Autor den Erzähler-"Zoom" zu Beginn auf Maximum gestellt hat, wir kleinste Details einer noch nicht enthüllten Umgebung in höchster Vergrößerung präsentiert bekommen und erst später in die richtigen Größenverhältnisse einordnen lernen. Oder weil Franz Kafka beispielsweise eine fantastische Fiktion von der "Verwandlung" in ein Insekt in die reale Umgebung integriert, auf die man nicht gefasst ist.

Was "Ich und alle anderen" angeht, so fallen mir "Marnie", "Vertigo" und die anderen Psychothriller von Alfred Hitchcock ein, bei denen ein psychisches Trauma der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte in der Geschichte ist. Das bekannte Schema - Traumatisches Ereignis in der Vergangenheit macht Gegenwart problematisch und kann erst durch Aufsuchen des Tatorts gelöst werden - wird von Matt Ruff mit höchster Meisterschaft und mir bisher unbekannter Komplexität auf die Spitze getrieben.

Dabei ist das Buch kein Psychothriller im engeren Sinn, der irrationale Angst beim Leser schüren will. Im Gegenteil: ständig werden Dinge ans Tageslicht befördert und aufgeklärt. Was als Liebesgeschichte seltsamer Typen beginnt und sich dann zum Roadmovie entwickelt, fördert mit unaufhaltsamer Konsequenz eine höchst unmenschliche Tragödie zu Tage mit einer komplexen Fülle tragischer Figuren und Handlungen, die allesamt "schrecklich normal" sind.

Fast beiläufig lernt man etwas über eine spezielle krankhafte Veränderung bei Menschen, die einem doch merkwürdig vertraut vorkommt, so als wäre eine Reihe unserer unmittelbaren Nachbarn davon betroffen oder man selbst. Ja, es bleibt bei so einem guten Werk nicht aus, dass man am Ende sogar etwas über sich selbst erfährt und darüber, dass es in der Welt die seltsamsten Dinge gibt und dass es daran nichts zu bemängeln oder zu verurteilen gibt.

Hinterher fragt man sich, ob das Erlebt nicht vielleicht zu intim, zu persönlich, zu voyeuristisch berichtet wird, insbesondere, wenn man auf der Webseite des Autors über die Entstehung des Romans erfährt, dass die Geschichte in ganz wesentlichen Teilen aus einer wahren Begebenheit inspiriert ist und große Parallelen dazu aufweist. - Nein das ist es imho nicht. Das Sonderbare wird nicht zur Schau gestellt, sondern in höchst respektvoller Weise dem verblüfften Publikum so erklärt, dass kein Zweifel daran bestehen bleibt: es gibt sie die seltsamsten Dinge und das mit Recht.


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